Gedanken zum Hintergrund der Fotographie.
Mein Gefühl versteht es, aber der Rest von mir versteht es nicht.
Auf der profanen Ebene scheint es bei der Fotografie um Technik und Motivwahl zu gehen. Ob der Bildausschnitt gut gewählt und das Werk an den richtigen Stellen scharf abgebildet ist. Statt Schärfe könnte man auch jeder andere Parameter einsetzen oder das gesamte Spektrum der Bildbearbeitung hinzufügen. Auf einer solcher Ebene bleibt Fotografie oberflächlich. „Fotocommunity“, „Instagram“ oder Fotowettbewerbe werden von dieser materiellen Beurteilung bestimmt. So werden Bilder zu profanen „Abbildungen“ einer beliebigen, bestenfalls biographischen Realität: meine Präsentation, meine Familie, mein Essen und mein Hund.
Das Künstlerische muss den gewünschten „Seelenklang“ treffen.
Der Fehler beginnt bereits bei der Begriffsbestimmung. So ist die Einteilung
in Sparten wie Akt-, Portrait- oder Landschaftsfotografie von rein formaler Natur.
Sie behindert die geistige Wahrnehmung des Bildes. Wieso definieren wir unsere Werke über die Kategorisierung des Motivs, die Arbeitsweise oder das Gerät? Erst wenn ich ein poetisches Interesse an der Welt habe, wird meine Fotografie zu einem echten Werkzeug. Aber was ist poetisches Interesse? Das Künstlerische muss den gewünschten „Seelenklang“ treffen. Für den so entstehenden Sinn benötigt es neue Definitionen, die sich nicht nur über ein handwerkliches Tun ausdrücken. Wie in einem Musikstück muss der Ton stimmen. Michelangelo ging nicht als Ölmaler in die Geschichte ein, sondern als Künstler. Technik kann immer nur Mittel für den „höheren“ Zweck sein.
Wenn ich Fotografie tiefer betrachte, geht es neben der Motivwahl um das Verhältnis zwischen Betrachter/Fotograf und Objekt. Bilder bekommen dadurch eine emotionale Färbung, werden lebendig und erfahrbar. Man hat das Motiv als Mensch vielleicht schon „hundertmal“ gesehen, aber auf dem Foto staunt man über dieses neu entdeckte Wesen. Von dem oft Gesehenen komme ich zu etwas Einzigartigem - so hatten wir es noch nie wahrgenommen! Dies gelingt in dem Maße, wie der Fotograf das Verhältnis zum Objekt bewusst neu bestimmt. Bleibt dieser Vorgang unbewusst, ist es bestenfalls ein gelungener Schnappschuss mit wenig künstlerischem Potential. Im Kunstbereich wird oft über diesen Raum zwischen Künstler und Abzubildendem gesprochen. Man sieht diesen Raum zwar nicht, aber er wirkt. Oft macht er das Eigentliche aus, kann es aber auch verhindern.
Als Betrachter spürt man den Mutschritt des Künstlers
Bei guter Fotografie geht es grundsätzlich nicht um Schönheit oder Abbildung. Gehen wir weiter in unserer Betrachtung, ist das eigentliche Thema der Fotografie neben dem Raum zwischen den Dingen deren präzise Distanz. Mit Distanz ist hier nicht Vermeidung gemeint, welches ein deutliches Kriterium für „schlechte“ Fotografie wäre. Entfernung weckt oder verhindert Gefühle. Als Betrachter spürt man den Mutschritt des Künstlers. Wie viel Berührung ist für ihn möglich? Von welcher Qualität ist diese Nähe? Eine Kamera ist zwischen mir und dem Leben, damit sie den Raum der Realität erträglicher macht. Über die Kamera ist die Suche nach einem passenden Abstand zum Leben möglich. Ich kann mit der Welt, die mich bildhaft umgibt auf diese Weise unglaublich „intim“ werden.
Dafür muss ich diesen Inhalt des Bildes sehen, finden oder bestimmen.
Vor diesem Hintergrund wird die Auswahl der Objektive, der technische Umgang mit Licht, Schärfe oder Farbe erst sinnstiftend. So ist bekannt, dass ein Zoomobjektiv trotz Schärfe und Überbrückung des Raumes oft tote Bilder macht, weil der Abstand zum Inhalt des Bildes nicht stimmig ist. Dafür muss ich diesen Inhalt des Bildes auch sehen, finden oder bestimmen können. Gute Fotografen machen dies instinktiv und trainieren beständig diesen Zugang. Für gute Bilder brauch es eine innere Reife des Sehens.
Die passende Distanz ermöglicht die größtmögliche Intimität.
Die Kamera erlaubt mir einen kompromisslosen, einzigartigen Blick in die Welt. Ich brauche keine Rücksicht nehmen und kann mich bei diesem Vorgang mir selber nähern. Gute Fotografie hat in vielen Fällen mit dieser Form der Berührung auch mit mir selbst zu tun. Die passende Distanz ermöglicht die größtmögliche Intimität des Augenblicks. Es ist dieser Moment - nicht die Bildschärfe - der wesentlich ist. An diesen für jeden Fotografen absolut individuellen Stellen und auch Grenzen entstehen wundervolle Bilder! Fotografie hat, trotz der aktuellen Bilderflut, dadurch die Möglichkeit radikal und einzigartig zu werden.
Das Weibliche ist nah, das Männlich muss diese Nähe erst aufsuchen, zulassen oder sich sogar davor schützen.
Fotografie wurde seit ihren Anfängen vor allem männlich bestimmt. Die deutliche Mehrheit der Fotoapparate wird von Männern gekauft und genutzt. Die Suche nach Intimität über Distanz mithilfe technischer Geräte ist eine männliche und durchaus romantische Haltung. Das Weibliche hat diesen Aufwand gar nicht nötig, weil es per se intim ist. Es gibt da keine Suche nach Nähe, für die eine Kamera ein Werkzeug sein könnte. Deshalb sind von Frauen gemachte Fotos nicht nur seltener, sondern auch von anderer Qualität als die Bilder von Männern. Das Weibliche ist nah, das Männlich muss diese Nähe erst aufsuchen, zulassen oder sich sogar davor schützen. An dieser Stelle ist eine Kamera für den männlichen Teil in uns vielleicht das genialste Werkzeug überhaupt. Damit wird der oft fetischartige Umgang mit verschiedenen Objektiven bei Männern verstehbar. Frauen interessieren sich kaum für diese Auswahl der Aufsätze oder die technischen Finessen ihrer Kamera. Sie wollen wissen, wo der Auslöser ist und einfach „schöne“ Bilder machen. Damit will ich den weiblichen Blick nicht banalisieren, nur ist er von komplett andere Art. Es geht dem Weiblichen vor allem um verschiedene Betrachtungen der eigenen Körperlichkeit und des darin eingeschlossenen Ichs. Wenn sie die reine Abbildung hinter sich lassen, brillieren Bilder von Frauen durch eine unglaubliche Präsenz.
Jene versteckten und wundervollen Gestalten, die allgegenwärtig sind
und ans Licht der Welt gebracht werden wollen
Es geht darum, der Welt näher zu kommen, statt nur „gute“ Bilder zu machen. Die Kamera ist der Tastsinn des Männlichen, damit er überhaupt wieder etwas spüren kann in seiner toten Welt. Eine tiefere Betrachtungsweise der Motive wäre die Suche nach dem Göttlichen im Moment des Auslösens; der Weg zur Seele eines Bildes. Erst an dieser Stelle findet Schönheit statt und macht Sinn. Es geht auch um Vergänglichkeit und den Schmerz über sich selbst. Themen wie Sehnsucht nach Gemeinschaft, die Angst vor Einsamkeit oder vor dem Tod finden über die Fotografie einen wunderbaren Raum der Auseinandersetzung. Es geht um die Suche oder das Finden von Eros, Heimat und Heilung über den eigenen Blick - dessen Verankerung in der Welt hat hier seine Arena. Wenn ich fotografiere, suche ich Zeugenschaft für meine einzigartige, immer brüchige, wenn nicht sogar bedrohte Existenz. Fotografie ist wie eine Form von Rückversicherung und Berechtigung für meine Art der Wahrnehmung. Fotografie ist auch ein Ritual, das mich in der Zeit beheimatet. Damit kommen wir zu einer höheren Form von Beschäftigung mit der Welt, ihrer schwer darstellbaren Seele oder direkt zu einem Michelangelo. Das wäre schon eine spannende Frage: Welche Fotos hätten - vorausgesetzt, sie hätten das Medium überhaupt nutzen wollen - ein Michelangelo oder ein Caravaggio heute mit ihrer Kamera gemacht? Oder auch: Wie wäre Bildhauerei mit der Kamera möglich? Ein Bildhauer sieht bereits im Stein die vorhandene Skulptur. Wie erkennen wir in unserem banalen Alltag mit dem Fotoapparat jene versteckten und wundervollen Gestalten, die allgegenwärtig sind
und ans Licht der Welt gebracht werden wollen?
Doch darüber ein andermal …
Copyright: Michael Hartenfels, Bad Soden am Taunus, Juli 2024
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